Zeitläufte
oder
Wie FeH55 in den Ruhestand ging.
Es muss so etwa 1971/72 gewesen sein, als ich von der Fa. Quante aus Wuppertal, in der Ausführung als Fernmeldehäuschen 55, Dienstbezeichnung FeH55 - mein Kollege FeH53 hatte eine nach innen aufgehende Schwingtür - ausgeliefert und montiert wurde.
Direkt daneben haben die mir von der Post damals auch den August montiert. Im Bild links sieht man August den Dritten. August heißt August, weil er mich damals nach unserer Montage gefragt hatte, welchen Monat wir haben. Und da er keinen Namen hatte haben wir uns auf August verständigt. Seitdem heißen alle Auguste August. Und so standen und stehen wir beide seit her an der Stelle und tun treu unseren Dienst. Nee, was hamm wer alles erlebt!
Da ist die Geschichte vom Klaus und der kleinen Gisela. Die beiden hatten sich in der Dorfdisco kennengelernt. Als Klaus beim Bund war hatte August richtig zu tun. Von Montag bis Mittwoch oder Donnerstag füllte Gisela pfundweise Briefe in August. Das ging so, glaube ich, anderthalb Jahre bis Klaus vom Bund wieder zu Hause war. Dann bekam ich zu tun. Gisela ging zum Studium nach Heidelberg. Klaus hatte inzwischen als Zimmerer gute Arbeit gefunden. Jeden zweiten Abend ab 22:00 Uhr stand Klaus bei mir in der Zelle und telefonierte. Ferngespräch! Damals ein Vermögen, was er in mich hinein warf. Was die so alles beredet oder manchmal auch nur seufzend beschwiegen haben. Irre. Naja, nach zwei Jahren war Gisela mit ihrer Ausbildung wieder in der Nähe und der Rest ist hier Geschichte.
Und dann die Köter und Kater! Ich weiß nicht wieviel Liter mir von den Vierbeinern an die Ecken gepisst wurden. Schlimm war es immer, wenn es lange Zeit nicht geregnet hatte. Dann roch man mich auf Meilen. August mochte diesen Zustand auch nicht, weil seine Kunden dann immer nur schnell die Briefe durch die Klappe schoben und diese dann auch noch zu warfen. Ja, das waren harte Zeiten. Oder Notrufe! Früher gabs ja nicht in jedem Haushalt ein Telefon. Ich weiß noch, wie es bei mir in der Nähe einen Dachstuhlbrand gegeben hatte und die Nachbarn über die 112 bei der Feuerwehr angerufen hatten. Mann, da war Leben im Dorf. Ich glaube, an den Abend war mein Hörer am Telefon nicht kalt geworden.
Ja - und auch traurige Geschichten liefen bei mir durch. Tod und Teufel, wie August immer sagte.
Ein besonderes Jahr war 1999, da bekam ich Besuch von einer Malerfirma, die mir den alten Lack, der schon einige Schadstellen hatte, runterputzte und mir einen schicken neuen roten Anstrich verpasste.
Innen wurde nix verändert. Fand ich nicht so gut, weil auch da schon ziemlich der Lack von ab war. Aber damals wusste ich noch nicht, dass es noch ganz anders kommen sollte.
Ich hatte in den Jahren zuvor bemerkt, dass immer mehr Leute so kleine Buletten in der Tasche hatten, die sie ans Ohr hielten und in sie hineinsprachen. Man denkt sich ja nix Böses und so dachte ich erst, dass es elektronische Notizbücher wären, in die sie Sprachnotizen redeten. August hat mich dann aufgeklärt. "Das sind Telefone mit denen man auch kleine Nachrichten verschicken kann", erzählte er mir.
Raus gekriegt hatte er es, als irgendwann mal jemand am Briefkasten stand und einen etwas dickeren Brief einwerfen wollte. In dem Moment klingelte es in der Hose des Menschen und dieser Mensch versuchte zwei Dinge zugleich. Brief einwerfen und die Telefonbulette aus der Hose fummeln. Beides ging schief. Der Brief landete neben dem Telefon im Dreck. Der Mensch fluchte hemmungslos unflätig, rubbelte den Dreck vom Briefumschlag und stopfte ihn in den August. Die Telefonbulette streichelte er dagegen ganz zart und tippte dann vorsichtig auf so kleine Tasten. Dann hielt er das Ding ans Ohr und sprach irgendetwas. Ein Wort hat dabei August die Ohren auf respektive seine Klappe fast aufgerissen. Der Mensch sagte: "Ich hätte dir sechshunderttausend SMS schicken müssen. Jetzt kriegst du die verdammten Informationen als Brief!" Das Zauberwort für August war SMS. Dazu aber später.
Die kleinen Buletten, die Menschen rufen zärtlich nach ihrem "Händi", wenn sie die Dinger meinen. Nun ja, auf jeden Fall sind diese Dinger daran Schuld, dass ich nicht mehr von innen renoviert und außen keinen neuen Anstrich mehr gekriegt habe. Irgendwann so, wird wohl in den Nullerjahren nach 2000 gewesen sein, kam ein Typ von der Post, die jetzt Telekom hieß, und montierte mir das Telefon und die Bücher ab. Machte mich innen ziemlich komplett nackig. Sogar das Licht drehte er ab. So stand ich jetzt bei Wind und Wetter neben August, der immer noch Briefe zugesteckt bekam. Allerdings mit den Jahren auch immer weniger und immer dünnere. Auch Postkarten sind mittlerweile so gut wie ausgestorben. Meistens hat er nur irgendwelche Mahnungen, Kündigung oder Rezepte aufzunehmen. Selten mal wieder einen Liebesbrief wie damals von der Gisela an den Klaus. Tja!
Vor sieben Jahren etwa, stand ich dann plötzlich wieder im Mittelpunkt. Eine Versammlung von mindestens fünf Anwohnern stand - wie in alten Zeiten - an mir Schlange. Sie machten die Tür auf und zu, auf und zu. Peilten von oben nach unten, von links nach rechts - und gingen. Zwei Wochen später rückte dieselbe Truppe wieder an. Diesmal mit Eimer und Feudel. Besen und Kehrblech. Verdünnung und Lack. Schrauben und Bretter und Öl. Wow.
In zwei Tagen wurde ich an einem Wochenende komplett renoviert und mit Büchern bestückt. Aus mir wurde eine Bücherzelle.
August ist schwer begeistert, denn jetzt herrscht wieder Leben in der Zelle. Seit Neuestem gibt´s zu den Büchern auch DVD´s. Und die Leute bringen für August auch wieder mehr Briefe vorbei.
Was August allerdings noch nicht weiß - demnächst soll er auch in Rente gehen. Die Leute verschicken zwar noch Briefe, aber die nehmen die Briefträger auch schon direkt mit. Und in einem der Bücher bei mir drin habe ich gelesen, dass die Menschen mit ihren "Händis" nicht nur SMSen, also so kurze Textnachrichten verschicken, sondern mit den neumodischen Streicheltelefonen mittlerweile auch eMails oder Sprachnachrichten verschicken und sogar Videotelefonate führen können.
Auf jeden Fall bin ich für meine alten Tage ziemlich gut mit den Büchern abgesichert und beschäftigt. Und - für August habe ich auch schon eine Idee. Bei mir befinden sich im Bestand eine Menge Bücher über Vögel. Auch Heimwerkertipps sind dabei. Und diese Bücher schiebe ich nachts immer ein bisschen nach vorne heraus. Die stehen dann immer an der Kante vor. Es kann eigentlich nicht mehr lange dauern bis jemand aus August einen Nistkasten bauen möchte. Dann sind wir beide gerettet. Er der Nistkasten - ich die Bücherzelle.
(C) 2023
Bildmaterial by Siegfried
Bildbearbeitung und Text by Werner