#18 - Reiner Kunze und die Postkarte aus London

21.11.2021 - Die London-Story

Es sind "Die wunderbaren Jahre" von Reiner Kunze und eine Postkarte, die als Überraschungsfund die Zutaten zu dieser wahnsinnig spannenden Story bilden. Alles was jetzt kommt sind Tatsachen und nichts davon ist erfunden oder fiktiv ergänzt. 

Die spannendsten Geschichten gibt´s immer im richtigen Leben. Hier ist eine davon:

Es war an einem dieser ewig grauen, dunklen Herbstabende, als ich vor dem Bücherregal stand und den Fundus nach einem interessantem Titel sichtete. Der Blick streifte über die Buchrücken und die Bilder der Vergangenheit kam aus dem Dunkel der Erinnerung wieder ins Bewusstsein.
In der Abteilung <Lyrik> hatte sich zwischen schmalen Gedichtbändchen ein Buchrücken etwas breit gemacht. Es war die Taschenbuchausgabe von "Die wunderbaren Jahre".

Reiner Kunze - Die wunderbaren Jahre - Ausgabe 1980
Irgendwie und ganz magisch zog meine rechte Hand das Buch heraus und warf es in meine Leseecke. Das Buch segelte durch die Luft und im Fluge blätterten die Seiten auf. Eine bunte Postkarte flatterte heraus auf den Boden.
Noch während des Fluges und bevor die Karte landete, erfasste mein Auge das Kartenmotiv: Tower-Bridge und London Bus. 
Und sofort gingen die kleinen grauen Zellen an die Arbeit  und versuchten einen Zusammenhang zwischen Buchtitel und Karte herzustellen.

Früher hatte ich, neben Fahr- und Eintrittskarten, verschiedentlich Postkarten als Lesezeichen benutzt. Wie man dies eben so macht. Aber bei dieser Postkarte hakte etwas und irgendetwas war hier anders.
Normalerweise kann ich mich ziemlich gut an Bilder und Orte erinnern und auch an die lokalen Ereignisse, die damit in Verbindung stehen. Aber hier fiel mir zu Buch und Karte nix, aber auch gar nix ein. Zum einem wusste ich nicht mehr, wie ich in Besitz dieses Buches gekommen war und zum anderen konnte ich mich nicht erinnern, dass ich diese Karte aus London jemals erhalten hätte. 

Die Postkarte war, dem Text auf der Rückseite nach, von einem mir unbekannten männlichen Absender an einen mir unbekannten weiblichen Empfänger aus einem Haus in der  Guildford Grove London SE 10 in ein Haus in der Dom-Pedro-Straße nach 8000 München 19 am 1-2-1985 geschickt worden.
Die Karte war ordnungsgemäß

mit einer 22-pence-Marke frankiert und abgestempelt worden. Diese Briefmarke mit dem Motiv des >Golden Arrow< war eine von fünf Marken der Serie >Famous Trains<, die am 22. Januar 1985 herausgegeben wurde.

Soweit die Erstinformationen, die die Hardware der Karte lieferte. Der enthaltene Text ist zwar nicht uninteressant, lieferte aber keine Erkenntnisse, die mir bei der Beantwortung der entstandenen Fragezeichen helfen konnten. Selbst die Namen von Absender und Empfängerin lösten keine Gedankenreflexe aus. Weder ein "Aha", noch ein "Soso".  

Wie war ich also an das Buch und die Karte gekommen? Gehörte beides zusammen?
Oder hatte ich die Karte einem anderen Buch entnommen und in diesem Buch weiter verwendet?
Oder hatte ich das Buch gar nicht erst bis zur Karte gelesen?
Oder die Karte nur zufällig in das Buch gesteckt?
Oder hatte jemand, dem ich das Buch oder von dem ich das Buch geliehen hatte, die Karte als Lesezeichen darin vergessen?
Die letzte Frage war schon deshalb spannend, da ich 1985 noch nicht in München war und somit erst später in den Besitz der Karte gekommen sein konnte.

Wie konnte ich eine Antwort finden? Gab es noch etwas, wie ich den Weg der Karte und des Buches in meinen Literaturfundus erklären konnte?

Der Absender hatte, für Postkarten eigentlich ganz ungewöhnlich, seine Adressdaten als Adressaufkleber mit

Die Absendeadresse
seiner Berufsbezeichnung, seiner Londoner Adresse und einem Ortsbezug auf Düsseldorf und Hamburg auf die Karte geklebt. Der Text selbst gab her, dass er zumindest in Hamburg eine Wohnung hatte, die untervermietet war. Und - ich konnte mich nicht an diesen Absender erinnern, obwohl berufliche und örtliche Bezüge zwischen uns bestehen. Das gleiche bei der Empfängerin. Hier bestanden die persönlichen Bezüge in dem gleichen Wohnort. Aber auch die Empfängerin löst per Namen keine Idee aus, wenngleich der Name sehr ungewöhnlich ist und selten sein dürfte.    

Es gab also zwei Namen und zwei Adressen. Die Postkarte ist 36 Jahre alt. Das konnte spannend werden und es wurde wirklich spannend. 

Es folgten Internetrecherchen über viele Stunden und einige Suchmaschinen mit vielen Variationen im Syntax und der Suchwortwahl. Im Ergebnis ergab sich schlussendlich, dass mit sehr großer Wahrscheinlichkeit der Absender der Karte im September 2019 verstorben war. Bis zu seinem Tod war er tatsächlich als Architekt in Düsseldorf postalisch gemeldet. Damit war diese Spur zu Ende.

Von der Empfängerin hingegen fanden sich noch aktuelle Spuren im Internet ohne direkten Ortsbezug. Sie hatte sehr wahrscheinlich aber erst vor Kurzem, wenige Tage vor diesem Post hier, auf einem Portal eine Bewertung hinterlassen. Der Inhalt des Posts war passend zum geschätzten Alter der Empfängerin. 

Soweit zu den Informationsbezügen über Absender und Empfänger dieser Karte, die mir allerdings auch keine Idee über die Herkunft der Karte mehr vermitteln konnten. Aber das war mittlerweile relativ egal geworden, denn die Karte gab noch eine Information her, die ebenfalls sehr interessante und hier für diesen Blog sehr passende Ergebnisse lieferte.

Der Titel der Karte lautet: >Ticket To Glide< oder übersetzt >Fahrkarte zum Gleiten<.
Eine kleine Internetsuche lieferte folgendes Ergebnis:

Das Copyright für die Postkarte lag und liegt (!) bei George Blair, Mind´s eye und gibt man seine Internetadresse: https://gbme.co ein, erschließt sich ein schier unglaubliches Spektrum gelebter Geschichte. 

Den folgenden Text habe ich von George´s Webseite genommen und übersetzt:

"In den frühen 1980er Jahren begann George mit der Gestaltung von Postkarten. Einige waren für den Londoner Tourismusmarkt bestimmt und zeigten Sehenswürdigkeiten wie die Tower Bridge, Nelsons Säule und St. Paul's in einer angemessenen Bearbeitung. Andere waren politisch.  Die rekordhohe Arbeitslosigkeit der Thatcher-Regierung war das Thema von vier Postkarten.  Die meistverkaufte Karte verkaufte sich etwa eine Viertelmillion Mal.  Sie zeigt auf der Vorderseite "Greetings From Britain" (Grüße aus Großbritannien) und ist eine Parodie auf die Postkarte vom Meer, doch anstelle des Piers sind fünf Arbeitsämter in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit abgebildet.  Ein anderer Entwurf, "Daddy What Did You Do When There Were Jobs?", parodierte das berühmte Plakat des Ersten Weltkriegs.  Margaret Thatchers eiserne Kontrolle über ihr Kabinett war Thema von zwei weiteren Postkarten.  Eine Reihe von Thatchers, die am Horizont verschwinden, trägt die Überschrift "My Cabinet is Completely Behind Me".  Bilder, die sich ad infinitum verkleinern, kommen auch in "Opportunity Knocks" vor, einer Reihe scheinbar endloser Türen, die mit einer Ziegelmauer enden. Dieses Bild wurde von Orson Welles' Verfilmung von Kafkas Prozess inspiriert, in dem der Angeklagte in zunehmender Verzweiflung an der Tür wartet und darauf wartet, eingelassen zu werden, nur um gesagt zu bekommen, er solle weiter warten.  Der unendliche Regress wurde auch in seiner ersten Karte "The Handout" verwendet, die eine Hand zeigt, die aus einer Säulenbox kommt und eine Karte hält, die eine Hand zeigt, die aus einer Säulenbox kommt, die noch ein paar Mal wiederholt wird. 
 
Georges letzte Karte aus dieser Serie wurde 1986 hergestellt.  Sein neuer NHS-Job bedeutete sehr lange Arbeitszeiten.  Freunde versuchten sehr, ihn dazu zu bewegen, zu seiner kreativen Arbeit zurückzukehren, aber die Zeit schien nicht reif zu sein.  Im Jahr 2010 war es dann soweit und er begann wieder mit der Gestaltung von Postkarten. 
 
Die Herausforderung bei der Gestaltung von Postkarten besteht darin, den Kampf um die Anziehungskraft gegen etwa fünfzig andere Karten in einem Regal zu gewinnen.  Deshalb und wegen des geringen Formats sind Klarheit, Einfachheit und grafische Qualität besonders wichtig.  Ein echter Vorteil sind die auffälligen Nebeneinanderstellungen, die Surrealisten als "zufälliges Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch" bezeichnet haben.
 
Die 1980er Jahre waren die Zeit vor dem Photoshop.  Es war eine Ära des Ausschneidens und Einfügens von Fotos mit Skalpellen, Scheren und Kaugummikleber, wobei Feuerzeugbenzin verwendet wurde, um Fotos abzuheben und neu zu positionieren.  Einer der Tricks, um das Bild realistisch aussehen zu lassen, bestand darin, den weißen Geistereffekt an den Rändern zu entfernen, indem man sie schwarz malte.  Ab 2010 war es an der Zeit, sich mit dem Photoshop zu beschäftigen, der eine eigene, störrische Persönlichkeit hat.  
 
Da George seinen Lebensunterhalt immer außerhalb der Kunst verdient hat, konnte er sich künstlerisch selbst verwirklichen. Das ist auch gut so, denn sein Photoshop-Lehrer verzweifelte an seiner eigenwilligen Interpretation der Vorgaben und seinem Wunsch, die Effekte bis zum Äußersten auszureizen, und meinte: "Es gibt immer einen". [Zitatende, Hervorhebungen von mir, übersetzt mit www.DeepL.com/Translator]
 
Soweit dazu. Aber es geht noch weiter.
George hat auf seiner London Bus-Fotomontage - logischerweise - das Bild eines Busses aus der damaligen Zeit verwendet und den Titel >Ticket to Glide< der Fahrt auf der Themse zu geordnet. Natürlich wollte ich mehr über die Route der Linie 260 herausfinden.

Dazu der aktuelle Fahrplan der Linie 260:
London Bus Line 260 - timetable
Die Linie fuhr niemals entlang der Themse.
D.h. George hat in künstlerischer Freiheit einen Bus der Linie 260 unterwegs fotografiert und hier themengerecht in die Fotomontage eingebaut. Und wer sich die Busse der Linie 260 anschauen möchte klickt hier.
Und wer ganz wild auf noch mehr Busbilder ist schaut bei Eamonn Kentell die Galerien durch. Einfach Waahnsinn.
 
Soweit erstmal die Ergebnisse aus der Recherche zu der Postkarte.
Wie sieht es aber mit der Beantwortung der Fragen nach der Herkunft von Buch und Karte aus?
Tja, am Ende des Tages muss ich vorerst feststellen, dass die Karte mich zu vielen interessanten Ergebnissen und insbesondere zu George Blair und deinen Fotomontagen geführt hat, ich aber immer noch nichts über die Herkunft der beiden Besitztümer >Buch und Karte< weiß. So far so good.
 
The following is a translation of the above text specifically for George:
It is "The Wonderful Years" by Reiner Kunze and a postcard that form the ingredients for this insanely exciting story as a surprise find. Everything that follows is factual and none of it is invented or fictitiously supplemented. 
 
The most exciting stories always happen in real life. Here is one of them: 
 
It was on one of those eternally grey, dark autumn evenings when I stood in front of the bookshelf and looked through the collection for an interesting title. My gaze roamed over the spines of the books and the images of the past came back into consciousness from the darkness of memory.
In the <poetry> section, a spine of a book had spread somewhat between slim volumes of poetry. It was the paperback edition of The Wonderful Years.
 
Somehow and quite magically, my right hand pulled the book out and threw it into my reading corner. The book sailed through the air and in a flash the pages flipped open. A colourful postcard fluttered out onto the floor.
Even during the flight and before the card landed, my eye caught the card motif: Tower Bridge and London Bus. 
And immediately the little grey cells went to work, trying to make a connection between the book title and the map.
 
In the past, I had used postcards as bookmarks, in addition to tickets and entrance cards. Just as one does. But with this postcard, there was a hitch and something was different.
Normally I can remember pictures and places quite well and also the local events connected with them. But here I couldn't think of anything at all about the book and the map. For one thing, I couldn't remember how I came into possession of this book and for another, I couldn't remember ever receiving this card from London. 
 
Picture
Unknown Postcard 1985 from London
 
The postcard had, according to the text on the back, been sent by a male sender unknown to me to a female recipient unknown to me from a house in Guildford Grove London SE 10 to a house in Dom-Pedro-Straße to 8000 Munich 19 on 1-2-1985.
The card was duly 
stamped and cancelled with a 22 pence stamp. This stamp with the motif of the >Golden Arrow< was one of five stamps in the >Famous Trains< series issued on 22 January 1985.
 
So much for the initial information provided by the card's hardware. The text included, while not uninteresting, did not provide any insights that could help me answer the question marks that arose. Even the names of the sender and recipient did not trigger any thought reflexes. Neither an "aha", nor a "so-so".  
 
So how had I got the book and the card? Did the two belong together?
Or had I taken the map from another book and used it in this one?
Or had I not even read the book as far as the map?
Or had I only put the map into the book by accident?
Or had someone to whom I had lent the book or from whom I had lent the book forgotten the map in it as a bookmark?
The last question was already exciting because I was not yet in Munich in 1985 and could therefore only have come into possession of the map later.
 
How could I find an answer? Was there anything else I could do to explain the way the card and the book had found their way into my literature collection?
 
The sender had, actually quite unusually for postcards, given his address details as an address label with 
his job title, his London address and a reference to Düsseldorf and Hamburg. The text itself revealed that he had a flat in Hamburg at least, which was sublet. And - I could not remember this sender, although there are professional and local references between us. The same with the recipient. Here, the personal connections were in the same place of residence. But the recipient's name does not trigger any ideas either, even though the name is very unusual and should be rare.    
 
So there were two names and two addresses. The postcard is 36 years old. This could be exciting and it was really exciting. 
 
Internet research over many hours and several search engines with many variations in syntax and search word choice finally revealed that in all probability the sender of the card had died in September 2019. Until his death, he was indeed registered as an architect in Düsseldorf. That was the end of this trail.
 
On the other hand, current traces of the recipient were found on the internet without a direct reference to the location. However, she had most likely left a review on a portal only recently, a few days before this post here. The post was appropriate to the recipient's estimated age. 
 
So much for the information references about the sender and recipient of this card, which, however, could no longer give me any idea about the origin of the card. But that had become relatively unimportant in the meantime, because the card gave another piece of information that was also very interesting and very appropriate here for this blog.
 
The title of the map is: >Ticket To Glide< or translated >Ticket to Glide<.
A little internet search yielded the following result:
 
Picture
Internet search
 
The copyright for the postcard was and is (!) owned by George Blair, Mind's eye, and if you enter his internet address: https://gbme.co you will find an almost unbelievable spectrum of lived history. 
 
I have taken the following text from George's website and translated it:
"In the early 1980s, George began to create the...."
 
So much for that. But there is more.
George used - logically - a picture of a bus from that time on his London Bus photo montage and assigned the title >Ticket to Glide< to the journey on the Thames. Of course, I wanted to find out more about the route of line 260.
 
For this purpose, the current timetable of line 260:
The line never ran along the Thames.
I.e. George took artistic liberty in photographing a bus of line 260 on the road and incorporated it into the photomontage here in keeping with the theme. And if you want to have a look at the buses of line 260 click here.
And if you want to see even more bus pictures, have a look at Eamonn Kentell's galleries. Simply amazing.
 
 
These are the results of my research on the postcard.
But what about answering the questions about the origin of the book and the map?
Well, at the end of the day I have to conclude for the time being that the map has led me to many interesting results and in particular to George Blair and your photomontages, but I still don't know anything about the origin of the two possessions >book and map<. So far so good.