DGdeS #12 - Kohlrabi

Nach dem ersten Blick gestern in den Tunnel mit seinen Überraschungen war ich gespannt was mit am Ende des Ganges noch erwartete.
Augenscheinlich herrschte unter der Erde mehr menschliches Leben als man anhand der Spuren an der Oberfläche entdecken konnte. Im Umgriff um die Einsame Scheune war nicht zu erkennen, dass hier starker Publikumsverkehr herrschte. Außer den üblichen Treckerspuren und ein paar Abdrücken von Autoreifen mit grobem Profil hatte ich nichts auffälliges entdecken können.

Gut, die Container vor der Einsamen Scheune waren ziemlich mit Schrott gefüllt gewesen, der aus alten, rostigen Rohren und Absperrventilen bestand. Kein Hinweis auf besondere Aktivitäten. Lediglich die Kabelpritschen mit tausenden Kabeln und die Schaltschränke im Tunnel lieferten einen Fingerzeig, dass hier irgendetwas mit Technik im Untergrund lief.

Um dem weiter nachzugehen machte ich mich am nächsten Abend wieder auf den Weg zum "Nebeneingang", der kleinen Scheune. Die Schwarze Hexe Alle meine Fahrzeuge werden aus Tradition als "Schwarze Hexe" bezeichnet. Hier ein Bild der aktuellen Hexe , mein Dienstfahrzeug, parkte ich wieder wie am Abend zuvor etwas abseits am Wegesrand.

Aus dem Kofferraum nahm ich meinen Rucksack mit der Beleuchtungstechnik und lief die letzten hundert Meter bis zur kleinen Scheune. Der Weg führte unter einer prächtigen Eiche mit voller Krone hindurch, um deren Stamm sich ein paar niedrige Stauden von Irgendwas gruppiert hatten. Als ich in Höhe der Eiche war hörte ich neben mir ein leicht krächzendes Geräusch aus dem Strauchwerk der Stauden. Es klang wie eine Kokosnussraspel mit kurzen Laufgeräusch. Ich schaltete die kleine Handlampe ein und leuchtete in der untergehenden Abendsonne unter die Stauden. Dort saß in Nähe des Baumstamms ein schwarzer Vogel, der etwas größer als eine Amsel war. Die linke Schwinge stand etwas ungelenk zur Seite ab. Das Tierchen blickte mit aufmerksam in geduckter Haltung an. Vorsichtig kam ich näher heran und lupfte die Gewächse zur Seite. Der Vogel blieb sitzen und wartete ab. Ganz sicher war ich mir nicht, aber es konnte ein Kolkrabenjunges sein, dass aus dem Nest gefallen war oder durch den Angriff eines Falken auf das Gelege heruntergefallen war. 
Merkwürdig war, dass der Vogel keinerlei Aggression mir gegenüber zeigte und sich ohne eine Schnabelhack von mir aufnehmen und in der Jacke zum Auto tragen ließ. In der Hand konnte ich den rasenden Herzschlag spüren und merkte, dass der Kleine auf Rettung hoffte.
Das Tunnelprojekt konnte ich für heute Abend vergessen. Stattdessen fuhr ich mit der Schwarzen Hexe direkt zu unserem Tierarzt im Dorf. Friedrich, mein alter Spezi, hatte schon immer was für kranke Gäule und kleine Katzen übrig und so hatte er nach dem Abi direkt sein Studium an der tierärztlichen Hochschule in Hannover aufgenommen und mit Summa cum laude abgeschlossen. Das Thema seiner damaligen Doktorarbeit aus dem Teilgebiet der Buiatrik, der inneren Medizin und Chirurgie der Rinder, befasste sich mit der Behebung der Labmagenverlagerung der Milchkuh. Nun ja, etwas speziell, aber Friedrich war Tierarzt mit Leib und Seele und so brachte ich den kleinen Raben zu ihm.
Es war mittlerweile schon nach neun Uhr abends und so klingelte ich an seinem Privatgemach. Er öffnete und war kein bisschen erstaunt, dass ich mit einem Raben in der Jacke vor der Tür stand. "Judo, komm rein oder sollen wir gleich in die Praxis", begrüßte er mich herzlich. "Lieber gleich in die Praxis", antwortete ich ,"ich weiß nicht, wie lange der Kleine hier mit dem Puls von zweitausenddreihundert noch durchhält."

Wir gingen in die Praxis und ich wickelte den Kleinen auf dem OP-Tisch aus meiner Jacke. Er hüpfte galant auf die Platte und blinzelte uns beide mit schräggelegtem Kopf an. Sein schwarzglänzendes Gefieder sträubte sich leicht, als Friedrich ihn von unten hoch hob, um seinen linken Flügel zu untersuchen. "Wie hast du ihn denn gefunden?", fragte er mich und ich erzählte ihm die Geschichte an der Eiche. "Erstaunlich!", sagte er nachdem er den Flügel abgetastet hatte. "Nichts gebrochen, lediglich eine Stauchung am Ellbogen und eine Prellung der Ulna, der Speiche. Und dies nach einem Sturz durch einen Baum aus zwanzig Metern Höhe! Kaum zu glauben. Die Stauden müssen den Sturz wie ein Sprungtuch abgefedert haben. Und irgendwie muss er sich elegant durch das Astwerk geschlängelt haben. Sagenhaft!!
In drei Tagen kann der Gute bei exzellenter Pflege wieder als vollständiger Corvus Corax gelten."
"Das heißt, ich habe jetzt ein Pflegekind?", gab ich zurück.
"So isses, mein Guter. Du kümmerst dich bitte um den Kleinen hier. Ich schreibe dir noch ein paar Zutaten für das richtige Chappi auf und in drei Tagen kommst du mit ihm wieder bei mir vorbei."
Ich blickte einigermaßen verblüfft in das lachende Gesicht von Friedrich, wickelte den Kleinen wieder in meine Jacke und machte mich auf den Heimweg.

Jetzt hat man natürlich immer sofort eine Voliere für eine fast ausgewachsenen Kolkraben zur Verfügung. Also steckte ich den Kleinen erstmal in einen großen Karton und ging in den Keller, um die Materialbestände zu untersuchen.
In der Abteilung >Gartenbau< fand ich ein altes Regal und noch gute fünf Meter alten Maschendrahtzaun. Daraus bastelte ich eine Voliere und schleppte das Konstrukt ins Büro. Zwischen die Maschen hatte ich ein quer durch den Käfig ein Kantholz als Sitzstange und aus einem alten Blechdeckel eine Futterschale gebastelt, die ich auf die Stange geschraubt hatte. Um den Kleine in den Käfig zu locken suchte ich in der Küche nach etwas Essbarem. Friedrich hatte mir so Leckereien wie Mehlwürmer, Maden, Heuschrecken, Mäuse und anderes Viechzeugs aufgeschrieben. Aber es fanden sich auch Veggie-Produkte wie Nüsse, Beeren und Obst auf der Liste. Leider hatte ich von alledem recht wenig bis gar nichts im Haus, da der Wocheneinkauf erst noch anstand und die Speicher ziemlich leer waren. Einzig zwei Knollen Kohlrabi hatte ich noch im Kühlschrank und so versuchte ich es damit. Die eine Knolle schnitt ich in Streifen und blanchierte das Gemüse, die andere Knolle ließ ich roh und schnitt sie ebenfalls in Streifen. Sorgsam füllte ich die Blechschale mit dem Gemüse. Als ich den Kartondeckel anhob kam mir der Kleine entgegengesprungen und hopste stracks in Richtung Käfig und dort sofort auf die Stange mit der Blechschale. Unverzüglich fing er an die Kohlrabistreifen mit seinem Schnabel zu bearbeiten und es war schon ein tollles Erlebnis zu sehen, wie der Kleine das Grünzeug ratzfatz verspeiste. Als ich ihm so beim Mampfen zu schaute, fiel mein Blick auf sein sehr schön glänzendes rabenschwarzes Gefieder und den kräftigen Schnabel, der unverwandt auf das Gemüse einhieb und sorgsam die Reste aus den Ecken am Deckelrand kratzte. Irgendwie kam mir dabei das Gemüse seiner ersten Speise in den Sinn und jäss, so sollte er heißen: > Kohlrabi <.

Kohlrabi
Kohlrabi im Mai 2023

Über das Abenteuer mit Kohlrabi war es Nacht geworden und morgen lag wieder einer dieser hektischen Termintage vor. Außerdem wartete auch der Tunnel auf weitere Entdeckungen. Also schloss ich den Käfig und machte mich auf den Weg in Morpheus Arme Morpheus ist ein Gott der Träume in der griechischen Mythologie.
Er ist ein Sohn des Hypnos, des Gottes des Schlafs.

Am nächsten Morgen hörte ich gegen fünf Uhr krächzende Töne aus meiner provisorischen Voliere. Im Halbschlaf schlurfte ich zu der Unterkunft von Kohlrabi und stellte fest, das der Kleine dabei war, die Bolzen, für die ich 10cm lange Gewindeschrauben gewählt hatte, aus den Riegelösen zu ziehen. Zwei von den vieren hatte er schon kunstgerecht herausgehebelt. An den letzten beiden Riegeln war er offensichtlich gescheitert und hatte sich entschlossen mich durch lautes Krächzen aus den Federn zu schmeißen.
Was sollte ich machen, der Kerl hatte Hunger. "Moin, Kohlrabi", rief ich und fragte ihn: "Wie wärs mit Frühstück, mein Lieber?". Als Antwort erhielt ich ein heftiges "Kraah" welches man auch als herzhaftes "Jaaah" interpretieren konnte. Bloß, wo sollte ich um die Uhrzeit ein adäquates Futter für den Burschen her bekommen? Mir fiel ein, dass Friedrich mir gesagt hatte, dass Raben Allesfresser sind. Mit ein paar Worten Zuspruch machte ich mich auf den Weg in die Küche, um die Vorräte zu checken und zu schauen aus was man für den Schwarzen ein Frühstück zaubern konnte. Mir fiel dabei ein, dass er vielleicht auch meiner morgendlichen Speise, die aus original britischem Porridge mit Äpfeln bestand ebenfalls zugeneigt sein könnte. Das würde eine Menge Arbeit sparen und mir die Fütterung erheblich erleichtern.

So bereitete ich einen Tennisball mehr Menge und füllte den Brei in zwei Schälchen. Für das Schälchen von Kohlrabi wählte ich allerdings eine kleine Edelstahlschüssel, damit sein Schnabel nicht die Keramik zerlegen konnte. Außerdem stellte ich seine Schale kurz in ein kaltes Wasserbad und ging anschließend mit dem Frühstück für uns beide in der Hand zurück ins Büro, wo der Käfig stand.

Das Kerlchen musste über einen guten Geruchssinn verfügen, denn die ganze Zeit über hatte er keinen Mucks mehr von sich gegeben. Als ich ins Zimmer trat hüpfte er aufgeregt auf der Stange mit noch immer leicht hängendem Flügel hin und her. Vorsichtig löste ich die zwei restlichen Bolzen und stellte ihm die Schale auf den Boden. In Nullkommanix war er von der Stange herab und mampfte ohne mit den Federn zu zucken das Porridge weg. Selbst meine Portion löffelnd schaute ich ihm gespannt zu.
Nach etwa der halben Menge blickte er auf und ich meinte ein Grinsen in seinem Gesichtsausdruck wahrnehmen zu können.

"Okay, Bruder", sagte ich, "das hat ja schon mal hingehauen. Fürs Erste sind wir gesättigt. Schaun wir mal, was Friedrich mir noch für heiße Kochtipps für dich geben kann." Damit beendeten wir unser Frühstück und ich brachte meine Schale in die Küche, um ihm noch eine Schale mit Wasser zu holen. Durst würde er sicher auch noch bekommen, dachte ich.

Nach einem Blick in den Käfig stellte ich fest, dass er noch ziemlich mitgenommen war und gut müde auf der Stange hockte. Inzwischen war es sieben Uhr geworden und ich nutzte die Gelegenheit um im Supermarkt in Klein-Stiesel die Vorräte zu ergänzen.

 

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